Historio-Graphie als Feld von Pragmatisierung / Entpragmatisierung der Literatur:
Historismus und literarische Moderne, Geschichte durch ErzΣhlung - ErzΣhlung durch
Geschichte.
1. Historismus und literarische Moderne.
Das erste Forschungsfeld dieses Schwerpunkts steht im gr÷▀eren Zusammenhang der
Frage nach der Moderne und ihrer Vorgeschichte. Es geht um die Entwicklung der These einer
materialen (nicht einfach dialektischen bzw. kontrastiven) KontinuitΣt zwischen dem Historismus
des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne. Ihre Entfaltung und Behandlung soll
zu einer Theorie der Semiosis moderner Texte beitragen, wie sie in neuerer Forschung immer
wieder gefordert wird.
Die These lautet, da▀ der Historismus in seinen Textverfahren zur Konstitution spezifisch
moderner literarischer Schreibweisen wesentlich beitrΣgt. In seiner Gestalt als historischer
Positivismus stellt er in der Wissenschaftsprosa und ihren popularisierten Formen eine
beispiellose Flut neuer Lexeme bereit, die zunΣchst in mimetischer Absicht (z.B. als Garanten
historischer Wahrheit im historischen Roman) in die Literatur der Zeit eingehen. In der
Literatur des Fin de siΦcle verselbstΣndigen sich dann solche Lexeme als exotische, kostbare
oder geheimnisvolle Einzelworte, z.B. in Katalogtexturen. Diese Tendenz zur
Lexemautonomie setzt sich in den spezifisch modernen Schreibweisen der zehner und
Zwanziger Jahre fort und fⁿhrt spΣtestens dort zu den bekannten Effekten der UnverstΣndlichkeit,
Hermetik und ─nigmatik.
Damit ist eine materiale KontinuitΣt zwischen Historismus und literarischer Moderne zu
dokumentieren, die geeignet ist, die Forschungsmeinung von der versuchten '▄berwindung des
(relativistischen) Historismus' durch die moderne Literatur (K÷hn) sowie ein undifferenziertes
VerstΣndnis moderner Texturen als Krisensymptome (Ich-, Sprach-, Wertkrise etc.) wesentlich
zu ergΣnzen bzw. zu korrigieren. Hier ist ein grundlegender Beitrag zur historischen Situierung
und systematischen Beschreibung einer eigenstΣndigen Semiosis moderner 'unverstΣndlicher'
Schreibweisen zu leisten, wie er in jⁿngster Zeit immer deutlicher als Desiderat der germanistischen
Forschung erscheint.
Die Entfaltung der These erfordert eine genauere AuffΣcherung unter verschiedenen
Aspekten, etwa:
das VerhΣltnis von positivistischer Wissenschaftsprosa, populΣrwissenschaftlichen
Schreibweisen und genuin historischer Literatur (historischer Roman,
Professorenroman etc.),
das systematische VerhΣltnis von Diskurs (Historismus) und literarischen Schreibweisen,
Katalogtexturen des 19. Jahrhunderts, des Fin de siΦcle und der unverstΣndlichen
Moderne,
hermetische Texturen der klassischen Moderne,
Semiosis der Montage und des Zitats,
die Frage der Restrukturierung moderner Prosa, z.B. im Roman,
Auseinandersetzung mit den hermeneutischen und kriseologischen Lesarten bisheriger
Forschung.
Wichtige Forschungsliteratur
Christoph Bode, ─sthetik der AmbiguitΣt. Zur Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in
der Literatur der Moderne. Tⁿbingen 1988.
Jⁿrgen H. Petersen, Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung - Typologie -
Entwicklung. Stuttgart 1991.
Moritz Ba▀ler, Die Entdeckung der Textur. UnverstΣndlichkeit in der Kurzprosa der
emphatischen Moderne 1910-1916. Tⁿbingen 1994.
Dirk Niefanger, Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne.
Tⁿbingen 1993.
Eigene Vorarbeiten (Gotthart Wunberg, Deutsches Seminar)
╓sterreichische Literatur und allgemeiner zeitgen÷ssischer Monismus um die
Jahrhundertwende, in: Peter Berner, Emil Brix und Wolfgang Mantl (Hg.), Wien um
1900. Aufbruch in die Moderne. Wien 1986.
Chiffrierung und Selbstversicherung des Ich. Antikefiguration um 1900, in: Die
Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frⁿhmoderne,
hg. von Manfred Pfister. Passau 1989.
UnverstΣndlichkeit. Historismus und literarische Moderne, in: Hofmannsthal Jahrbuch 1993.
Historismus, Lexemautonomie und Fin de siΦcle. Zum DΘcadence-Begriff in der Literatur der
Jahrhundertwende, in: Arcadia 1995.
M÷gliche Dissertationsprojekte
Dissertationsprojekte werden aus den Themenfeldern entwickelt, die in der Darstellung des
Forschungsschwerpunkts aufgelistet sind (s.o., S. 33).
2. Geschichte durch ErzΣhlung - ErzΣhlung durch Geschichte.
Im Problemzusammenhang der Frage nach Begriff, Genese und Destruktion der
Σsthetischen 'Moderne' grⁿndet das zweite Forschungsfeld in einem die Felder von
Historiographie und Literaturwissenschaft gemeinsam durchschneidenden Problem, der
PrΣmisse: Geschichte mu▀ erzΣhlt werden - ErzΣhlen erzΣhlt Geschichte(n). Die
transzendentalen Kategorien der Erm÷glichung von Erfahrung (Raum und Zeit) erfⁿllen sich in
der konkreten Durchdringung und wechselseitigen Bestimmung 'wissenschaftlicher', z.B.
geschichtswissenschaftlicher und literarisch-narrativer Diskurse. Keine ErzΣhlung ist m÷glich
ohne Daten, Fakten und deren Zusammenfⁿgung zu Ordnungen, kein Text kommt ohne
'ErzΣhlzeit' und 'erzΣhlte Zeit' aus und keine Geschichte. ErzΣhlen bleibt so, ob als Geschichtsschreibung
oder als literarische Erfindung, auf die unsere gemeinsame Welt-Erfahrung
organisierenden Ordnungen von Raum und Zeit und die in unserer Kultur verbindlichen,
codierten Ma▀e dafⁿr bezogen. Solche Normen und Ordnungskonzepte von Erfahrung werden
aber von einer Literatur, die im Kontext der Reflexionen des Neostrukturalismus eine nicht-
mimetische, konstruktive sprachliche Kompetenz akzentuiert und Σsthetisch-theoretisch
begrⁿndet, radikal in Frage gestellt. Zur Debatte steht, ob die Konstruktion von Geschichte als
Ereignis- und Bedeutungszusammenhang durch ErzΣhlen als 'narrative Form' noch bewirkt
werden kann, wenn diese selbst, als disparat, inkonsistent, diskontinuierlich, hermeneutische
Sinn-Entwⁿrfe verweigert. Erzeugt ErzΣhlen dann nur noch textuelle Muster, keine Text-Ganzheiten
mehr? Die Basis-Opposition lautet: Integration oder Dispersion - immer im
Vergleich mit konventionalisierten ErzΣhlmustern. Gegenⁿber deren Ordnung eines
wissenschaftlich, theoretisch und konventionell fundierten VerstΣndnisses von Geschichte erscheint
die Perspektive einer anderen Art von Ordnungs-Erzeugung: durch Lektⁿre. Das
ErzΣhlen bezieht sich nicht mehr vor allem auf einen vorgΣngigen lebensweltlichen Konsens als
Verstehenshorizont; aus der Kommentierung und Rekonstruktion von 'Information' und
'Struktur' der textinternen Daten gegenwΣrtiger ErzΣhlweisen mu▀ erst eine gemeinsame
Geschichte von Text und Lese-Proze▀ hergestellt werden. Der Leser schreibt das Buch als
seines zu Ende.
Wo die Texte tendenziell einen weiter-erzΣhlenden Kommentar erzwingen, erscheint das
einst aus den Texten der frⁿhen Moderne abgewanderte 'ErklΣren' (als besonderer
wissenschaftlicher, gerade geschichtswissenschaftlicher Diskurs) evtl. in anderer Gestalt
wieder, als Proze▀ der Semiose in der Dechiffrierung und Zusammensetzung der
strukturbildenden sprachlichen und narrativen Elemente der gegenwΣrtigen Formen des
ErzΣhlens. Auch die beziehungsstiftende Kompetenz des Lesers bleibt, selbst auf dem Gebiet
der Kenntnisse des Lexikons und der Grammatik, aber auch der zuhandenen Theorie-
Konzepte, gebunden an die M÷glichkeit der Tradierung von 'Wissen' (in Texten) durch
▄berlieferung, an deren Kontrolle und Kritik.
Dieser Problemzusammenhang soll an umfangreichen Prosa-Konstruktionen der letzten
zwanzig Jahre untersucht werden, die das Problem des Erinnerns, der Konsistenz des erinnernden
und erzΣhlenden Subjekts (bzw. FunktionstrΣgers), die VervielfΣltigung der 'Sprachen',
die Verwandlung des (auto-biographischen) ins erzΣhlte Ich, die Einbindung und Herausl÷sung
des ErzΣhlens aus einem Konzept von Geschichte bzw. in die Umschreibungen von Mythen,
die Form endloser Verflechtung von Rede-Weisen und die M÷glichkeit
realitΣtstranszendierender Sprechweisen entfalten.
Wichtige Forschungsliteratur
Reinhart Koselleck u.a. (Hg.), ObjektivitΣt und Parteilichkeit. Theorie der Geschichte. BeitrΣge
zur Historik, Bd. I. Mⁿnchen 1977.
Jⁿrgen Kocka, Thomas Nipperdey (Hg.), Theorie und ErzΣhlung in der Geschichte. BeitrΣge
zur Historik, Bd. 3. Mⁿnchen 1979.
Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt
Aram Veeser (Hg.), The New Historicism. New York, London 1989.
Hartmut Eggert u.a. (Hg.), Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der ReprΣsentation
von Vergangenheit. Fs. f. Eberhard LΣmmert. Stuttgart 1990.
J÷rn Rⁿsen, Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens. Frankfurt 1990.
Ders., Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur. Frankfurt
Hans-Jost Frey, Der unendliche Text. Frankfurt 1990.
Jacques RanciΦre, Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens. Frankfurt
C. Conrad und M. Kessel (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. BeitrΣge zu einer
aktuellen Diskussion. Stuttgart 1994.
Eigene Vorarbeiten (Klaus-Peter Philippi, Deutsches Seminar)
"Fⁿr die Katz"? Robert Walsers Text 'Der TΣnzer' und das paradoxe Glⁿck der Kunst. In: Zur
─sthetik der Moderne. Fs. f. Richard Brinkmann. Tⁿbingen 1992.
Chaos und Ordnung im Werk Ernst Jⁿngers, in: DVJs 63, 1989.
M÷gliche Dissertationsprojekte
Teleologie und DiskontinuitΣt der Erschreibung von 'Zeit'.
Sprach-Codes und ihre Umstrukturierung durch Sprechen und Schreiben.
Subversionen der 'Vernunft' und ihre phantastische Neukonstruktion.
Modellanalysen literarischer/medialer Zyklen (G. Roth, Marianne Fritz).